ABHANGDokumentarfilm / Experimentalfilm | in Festival-Auswertung
DCP 2K | 5.1 | 16'55 | 2024 «Macchina» wird das moderne Automobil nach der ersten Italienreise genannt. Die Zeit vergeht und der Wagen endet auf der Deponie im Wald zwischen Backöfen, Kühlschränken und Pneus.
Der Abfall wird immer mehr. Eine Erdschicht soll ihn zum Verschwinden bringen. Moos und Sträucher überwuchern den Zivilisationsschrott. Und was passiert heute mit den Altlasten in Schweizer Wäldern und Feldern? «Abhang» erzählt ein Stück Abfallgeschichte. Eine Spurensuche auf der Halde. |
Buch und Regie Marcel Scheible
Kamera Marcel Scheible Montage Fabrizio Fracassi, Marcel Scheible, Carmen Walker Stimme Maja Stolle Musik Rahel Zimmermann Kontrabass und Violine Yves Neuhaus |
Sounddesign Patrick Becker / Andrea Padovan
Tonmischung Patrick Becker Farbbearbeitung Hannes Rüttimann Grafik Noëmi Bachmann Produktion Sel et Poivre Mit Bildern aus «La Suisse s'interroge», 1964, von Henry Brandt |
Hintergrund
In der Schweiz gibt es rund 15‘000 Ablagerungsstandorte mit einer Gesamtfläche von 80km2, die Fläche der Stadt Zürich. In praktisch jeder Gemeinde gab es eine oder mehrere geordnete oder wilde Deponien, die mit der Revision des Gewässerschutzgesetzes von 1971 und dem Umweltschutzgesetz von 1983 mit einer Erdschicht überdeckt oder einem Schild «Abfälle deponieren verboten» versehen, eingezäunt und geschlossen wurden. Einzelne Siedlungsabfalldeponien wurden bis Ende 90er befüllt. Die Altlastenverordnung von 1998 regelt die Erfassung aller Standorte im Kataster sowie die Festlegung allfälliger Sanierungs- oder Überwachungsmassnahmen. Die Sanierungsarbeiten der belasteten Standorte werden gemäss BAfU bis 2040 andauern. Eine Gefahr geht aus altlastenrechtlicher Sicht von lediglich 4% aller Deponien aus. Rund 14‘000 Standorte bleiben unverändert und somit die Abfälle für immer im Boden. Die Sanierungsmassnahmen sind unterschiedlich. Nicht immer wird der Abfall ausgegraben. Um die Belastung zu minimieren werden nach Möglichkeit Gewässer umgeleitet (aktuell in Mettau, Wenggraben) oder entstehenden Gase abgeleitet (Methan in CO2 transformiert) wie in Küttigen AG. Auf manche Altlast wurden sogar Häuser oder Sportanlagen gebaut. So wird in Küttigen vorerst auf dem Sportplatz Ritzer weiter «getschuttet». Die Deponie «Stadtmist» in Solothurn ist mit 16 Hektaren eine der grössten der Schweiz. Hier ist Abfall von einem halben Jahrhundert eingelagert. Heute wird die Deponie saniert und der Kehricht ausgegraben. Anmerkungen der Regie Für uns Kinder der 80er Jahre war klar, dass man nichts in den Wald wirft, auch wenn dieser vielerorts verschmutzt war. Dennoch waren Fundstücke im Wald in unseren kindlichen Augen eher etwas abenteuerliches als umweltbelastendes. Vor fünf Jahren war ich zum ersten Mal an einem stillgelegten Ablagerungsstandort. Seit Januar 2022 habe ich verschiedene Deponiestandorte regelmässig mit der Filmkamera besucht. «Vorsichtig taste ich mit meinem Fuss. Trägt der Untergrund mein Gewicht? Der düstere Geist der Wegwerfgesellschaft schwebt über der Deponie. Unter mir und dem Waldboden liegen rostige Fässer, Kühlschränke, Pneus. Was würden mir die Objekte erzählen, wenn sie sprechen könnten? Ich stelle mir die vereinzelten Autowracks als stolze Prestigeobjekte vor. Bäume schlagen Wurzeln zwischen Bauschutt und durch Pneus hindurch. Die Natur und die Ausscheidungen unserer Gesellschaft treffen auf eine befremdende Art aufeinander.» |
Heute ist die Schweiz im Recycling und Umweltschutz eines der führenden Länder weltweit. Umso mehr irritiert mich dieser surreale Anblick. Im Kataster suche ich nach Deponien und finde Einträge ohne Ende.
Im Frühjahr 2022 entdecke ich die mehrteilige Filmprojektion «La Suisse s’interroge» von Henry Brandt im Musée d’art et d’histoire de Neuchâtel. Brandt hat die Schweiz für die Expo 64 filmisch dokumentiert und kritisch hinterfragt. Im Kapitel «Wachstum» zeigt er die Kehrseite der jungen Konsumgesellschaft auf und filmt Müllberge und verschmutzte Gewässer. Für mich schliesst sich ein Kreis: Was Brandt vor 60 Jahren filmisch kritisiert hat, liegt heute immer noch in unseren Wäldern und Feldern. Der Blick in die Vergangenheit wirft die Frage auf, was heute und in Zukunft mit unserem Müll im Boden passiert. Die Recherche führt mich nach Solothurn, wo aktuell die Deponie «Stadtmist» saniert wird. Auf einer Gesamtfläche von 16 ha wird der Boden mehrere Meter tief ausgehoben und gereinigt. Von 1925 bis 1976 wurden hier Siedlungsabfälle entsorgt und mit einer Erdschicht überdeckt. Innerhalb von 6 Jahren wird diese Masse nun ausgegraben und auf der eigens vor Ort erbauten Anlage gereinigt. Doch längst nicht alle Standorte werden saniert. Gerade 4% aller Deponien gelten als umweltbelastend und werden gereinigt, die restlichen bleiben wie sie sind. Aus den «Sünden von gestern» werden vielleicht dereinst archäologische Fundstücke. Bis dorthin bleiben sie surreale Kulisse und Mahnmal unserer Wegwerfgesellschaft. «ABHANG» beleuchtet auf poetische und dramatische Art und Weise unsere Beziehung zur Natur und hinterfragt unsere Wegwerfgesellschaft kritisch. Marcel Scheible Basel, März 2024 |